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Creativity World Forum 2014 in Kortrijk

Beim Creativity World Forum 2011 im belgischen Hasselt war ich damals noch eher zufällig gelandet. Hauptsächlich, weil ich meinen "Meister", Garr Reynolds, wieder sehen wollte. Aber auch, weil der Titel interessant klang. Die Veranstaltung als Ganzes hat mich allerdings sehr stark beeindruckt, so dass ich vor hatte, bei nächster sich bietender Gelegenheit wieder dorthin zu gehen.

Da das CWF immer mal wieder in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten stattfindet, musste ich darauf bis 2014 warten. Als dann aber der Ticketverkauf öffnete, griff ich sofort zu einem der Early Bird-Tickets. Zu diesem Zeitpunkt war das Vortragsprogramm noch recht löchrig, aber das war mir egal. Als Keynote-Speaker stand immerhin schon Guy Kawasaki fest, aber ich wäre wohl auch hingegangen, wenn ich keinen einzigen der Redner gekannt hätte.

Comfy Und ich wurde nicht enttäuscht. Wie schon 2011 war schon die Ankunft ein riesiges Wow-Erlebnis. Die Veranstalter hatten aus einer drögen Messehalle eine riesige und gemütliche Wohnlandschaft gemacht. Die mittlere der drei genutzten Hallen diente als Aufenthaltsbereich und war mit schwarzen Tüchern in drei Gänge aufgeteilt worden. Die Außenseiten sowie die Gänge waren mit Ständen bestückt. Dort gab es vom Buchladen über kleine Startups, Infoständen von (zumeist lokalen, also belgischen bzw. flandrischen) Initiativen über künstlerisch angehauchte Stände eine sehr bunte Mischung.

Hinter dem Hingucker, einer lebensgroßen(!) vergoldeten Skulptur einer Giraffe, erstreckten sich dann zwischen den Ständen die angesprochenen Wohnlandschaften: Die Gänge waren mit Teppichen ausgelegt und überall standen Sofas, Sessel, Tische in diversen Höhen und Lampen. Man hatte es tatsächlich geschafft, diese Halle in ein riesiges Wohnzimmer zu verwandeln, das alle Aspekte von Kitsch bis Modernismus abdeckte.

Zusätzlich zum Vortragsprogramm gab es in der dritten Halle kleine Wohn-Inseln. Hier konnte man sich für eine Sofa Session (10 Besucher diskutieren eine dreiviertel Stunde lang mit einem Speaker über ein Thema) oder einen Tea for Two (30-minütige Individualberatung mit einem Experten zu einem Thema) treffen. Von diesem Angebot hatte ich vollen Gebrauch gemacht und an beiden Tagen je ein Ticket für eine Sofa Session und einen Tea for Two ergattert. Aus meinen beiden Tea-Sessions (zum Thema Storytelling und mit einem Book Coach, die maßgeschneiderte Buchempfehlungen gibt) habe ich viel mitgenommen.

Sofa Session with Robin Chase Einer der Höhepunkte war jedoch, etwas unerwartet, die Sofa Session mit Robin Chase. Ihr Vortrag über die Sharing Economy hatte mich nicht übermäßig beeindruckt, denn er enthielt nichts wirklich Neues. In der Sofa Session sprudelte es dann aber nur so aus ihr heraus. Sie schlug eine Brücke vom Sharing zur Klimaerwärmung, zur Unfähigkeit der Politik, sich an die Herausforderungen der Zeit (Wirtschaft wie Umwelt) anzupassen, zur Erkenntnis, dass die Politik - vor allem in den USA - unter dem Einfluss von 100 reichen Leuten steht, die eben alle in ihrem alten Denken verharren und damit die Zukunft der Menschheit als Ganzes bedrohen. Robin Chase schreibt gerade ein Buch und hat offenbar sorgfältig recherchiert und konnte alle ihre Aussagen mit Daten und Fakten untermauern. Ihre Energie war geradezu mit Händen greifbar, aber auch ihre Frustration und schon fast Verzweiflung. Wie sie selbst zugibt, hat sie auch keine Lösungen, aber sie ist zu der festen Erkenntnis gekommen: So geht es nicht weiter. Es muss radikale Anpassungen geben. Wenn wir so weiter machen wie bisher, bricht nicht nur unsere Wirtschaft zusammen sondern wir werden - wegen des anstehenden Klimawandels - schlicht und ergreifend sterben. Angesichts dieses Gefühls der Ohnmacht ist sie, wie sie halb im Scherz hinzufügte, in den letzten Monaten schon fast zur Anarchistin geworden.

Das war jetzt nur eine sehr unzureichende Zusammenfassung dieser intensiven 45-Minuten-Session. Ihr Buch, das wohl erst im Juni 2015 erscheinen wird, steht aber schon ganz oben auf meiner Liste derjenigen, die ich unbedingt lesen muss.

Back to the Plenary Vorträge gab es natürlich auch. Auch in der dafür vorgesehenen Halle hatte die Organisation wieder ganze Arbeit geleistet. Eine Bühne, die sich über die ganze Hallenbreite erstreckte (der eine oder andere Speaker war schon fast außer Atem, bis er oder sie endlich in der Bühnenmitte ankam), darüber vier große Leinwände, die die Folien zeigten, dazwischen drei weitere Leinwände, die Live-Bilder des Speakers zeigten. Ein großes Sofa in der Bühnenmitte und hinter der Bühne noch einmal eine extra-breite Leinwand, die stimmungsvolle Bilder zeigte. In den Pausen gab es Live-Musik von einem belgischen Techno(!)-Musiker.

Guy Kawasaki war der erste Redner und spulte im Prinzip das ab, was man von ihm erwartet hatte. Es war eben ein Guy-Kawasaki-Talk - man fühlte sich gut unterhalten und nahm ein paar Punkte mit, aber wenn man schon einmal eines seiner Bücher gelesen hat, enthielt der Vortrag nichts wirklich Neues.

Insgesamt waren es an den zwei Tagen zu viele Redner, um jetzt hier auf alle einzugehen.

Legs up Der Vortrag von Tom Kelley hat mir von allen am Besten gefallen. Ihm ging es vor allem darum, dass wir bei aller Innovation die Dinge immer auch aus der Sicht desjenigen sehen, der oder die das Produkt letzten Endes benutzen wird. Und er untermauerte dies mit schönen, eindrucksvollen Fallbeispielen. Da war etwa der Mitarbeiter von GE, der so stolz auf die technischen Errungenschaften seiner MR-Scanner war. Bis er eines Tages erfuhr, dass Kinder so sehr Angst vor seinen Maschinen haben, dass sie mit Medikamenten ruhig gestellt werden müssen, um einen brauchbaren Scan zu bekommen. Nachdem er ob dieser Erkenntnis völlig desillusioniert zuerst seinen Job hinschmeißen wollte, arbeitete er schließlich daran, die Maschinen kinderfreundlicher zu gestalten. Oder die Feldstudie des Medizinkonzerns, die sich fragten, wie die alte Frau mit Gicht in den Händen wohl die Medikamentenflasche aufbekommt. Worauf diese unbekümmert meinte, das wäre kein Problem und sie es ihnen zeigte: Sie sägte kurzerhand mit einer Brotschneidemaschine alter Bauart den Deckel der Flasche ab - während ihre Finger vielleicht zwei Millimeter von der rotierenden Klinge entfernt waren.

Wie man sieht, war Tom Kelleys Vortrag ein schönes Beispiel für Storytelling :)

Daan Roosegaarde Steven Levitt und Ricardo Semmler beeindruckten jeweils mit 60-minütigen Vorträgen ohne Folien. Dem von Steven Levitt konnte man m.E. wegen seiner Struktur etwas besser folgen. Ricardo Semmler hatte viele nachdenklich machende Dinge zu sagen, aber es war nie so recht klar, wohin das Ganze eigentlich führen sollte.

Der belgische Stardesigner Daan Roosegaarde konnte weniger mit seinem Vortragskünsten als mit seinen vielen sehr anschaulichen Werken punkten (und er hatte natürlich Heimvorteil). Der Vortrag von Austin Kleon war auch sehr schön und in eine persönliche Story eingepackt.

Ein paar Durchhänger gab es auch, bei den 7-Minuten-Vorträgen. Da war zum Beispiel der junge Koch, der seine eigentlich sehr persönliche Story vom Blatt ablas. Oder die Frau von irgend einer Organisation, die nichtssagende Kundenstatements ("es war toll, mit Organisation X zusammenzuarbeiten") auf ihren textlastigen Folien hatte und sie dann auch noch vorlas. Aber es gab auch dort kleine Highlights und junge bzw. wohl eher unerfahrene Redner, die sich gut schlugen. Der Mann vom Nano Supermarket etwa ging souverän mit seiner nicht funktionierenden Fernbedienung um.

All smiles, part 2 Mein Book Coach hat mir als eine Leseempfehlung das Buch "Networking for people who hate networking" mitgegeben. Gute Idee, nur hätte ich es eben schon vorher gebraucht. Wer mich kennt weiß, dass ich mich schwer tue, wildfremde Menschen einfach anzusprechen. Insofern habe ich hier wohl viele Gelegenheiten verschenkt. Die einzige Person, mit der ich in nennenswertem Umfang gesprochen habe, war Markus Abele - und den kannte ich, weil wir ihn 2012 als Redner beim TEDxStuttgart hatten. Vielleicht hätte ich doch das "Blind Date"-Angebot in Anspruch nehmen sollen.

Abgesehen von diesem kleinen Problem (das ja vor allem an mir liegt) hat das Creativity World Forum alle meine Erwartungen mindestens erfüllt, wenn nicht sogar übertroffen. Muss ich jetzt wirklich bis 2017 warten, bis es wieder nach Flandern kommt? Vielleicht schaffe ich es ja zum nächsten Event, wo auch immer das sein wird ...

(Alle Fotos stammen von meinem Narrative Clip. Mehr davon auf Flickr.)

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